Verheimlichte Leben

 

Verwirrt saß ich an meinem Schreibtisch, starrte ziellos aus dem Fenster. Kann man so seine Geschichte anfangen? Was weiß ich. Jedenfalls riss mich dann der Anruf aus meiner Erstarrung. Die Stimme, eine warme Männerstimme, hatte ich noch nie gehört. „Ich bin Thomas, dein Halbbruder aus Wismar.“ Keine Überraschung, dass der sich jetzt meldet, hat wohl auch gerade erst von Vaters Tod erfahren. „Ach, Thomas, ja, ich weiß. Dich hat das sicher auch ziemlich umgehauen.“ Wir sprachen direkt. Er klang so anders, aber freundlich. Vater hatte nie viel erzählt, schon gar nicht von Thomas. Der Name war ihm immer nur mit Mühe über die Lippen gekommen. Seltsam, jetzt sprachen wir zum ersten Mal und es war, als würde nichts mehr zwischen uns stehen.

 

Ich hatte mich nie bemüht, mir ein klares Bild von Thomas zu machen, seit ich mit etwa 19 von seiner Existenz erfahren hatte. Meine Mutter war damals, also vor rund dreißig Jahren, kurz nach dem Mauerfall 1989, zu mir ins Zimmer gekommen und hatte mir aufgebracht erzählt, dass ich einen Halbbruder habe. Papa habe damals, bevor er in den Westen kam, eine kurze Affaire mit dieser Frau gehabt, und jetzt sei die Mauer ja weg und der Thomas könne jetzt jederzeit vor der Tür stehen. Da sei es besser, dass ich es wisse. „Bitte mach Papa keine Vorwürfe. Er schämt sich so.“ Ach herrje, warum sollte er oder irgendwer sich dafür schämen! Das ist doch Quatsch, dachte und sagte ich, als ich ins Wohnzimmer zu meinem Vater ging. Aber der wollte gar nicht darüber reden. Ich sollte ihm verzeihen. Er hatte Mama einfach vorgeschickt und wollte kein Wort mehr davon hören. So war das oft gewesen.

 

Jetzt, am Telefon, klang Thomas emotional, wie meine Mutter es oft war. Dabei, musste ich mich erinnern, ist er doch von einer anderen Mutter. Aber, erzählte er mir redselig, Papa sei ja nicht so nahbar gewesen, immer etwas unterkühlt. Schon bevor er damals ohne ihn und seine Familie in den Westen abgehauen sei. – Thomas begann mir leid zu tun. Natürlich! Vater war auch mir gegenüber nie besonders körperlich gewesen, hatte Umarmungen immer eher widerwillig über sich ergehen lassen. Aber er hatte Thomas zurückgelassen damals, bevor er sich mit meiner Mutter eine Familie aufgebaut hatte. Ich sagte langsam: „Thomas, hör mal, das kenne ich. Papa war auch bei meinen Umarmungen immer zurückhaltend.“ Die kurze Stille, die auf meinen Satz folgte, schien sich durch ein ganzes Leben zu senken. Mir wurde klar, dass Thomas plötzlich begreifen musste, dass Vaters Zurückweisung keine persönliche Ablehnung bedeutet hatte, sondern einfach ein Charakterzug unseres Vaters war. Ich hörte, wie Thomas sich ein paar Tränen aus dem Gesicht und der Stimme wischte. Er durchbrach seine Verlegenheit mit ein paar Anekdoten und schloss mit der Feststellung: „Du, ich glaube, die haben im Krieg alle einen ziemlichen Knacks bekommen. Vater war ja dreizehn, als er mit der Familie aus Pommern Richtung Mecklenburg floh. Und hier hatte er auch kein schönes Leben.“

 

Zum ersten Mal begriff ich, wie anders Thomas unseren Vater erlebt haben musste. Zuverlässig, fleißig, unauffällig, nie wirklich herzlich. Aber er hatte Thomas und dessen Mutter verlassen. „Abgehauen“, hatte Thomas gesagt. Ich hatte an Vater immer als jemanden gedacht, der in den Westen geflohen war. Aber abgehauen? Ich hatte ihn als ein Opfer gesehen. Nachdem der Vater meines Vaters, mein Opa, im letzten Kriegsjahr eingezogen und direkt gefallen war, war mein Vater 1945 mit dreizehn das älteste männliche Familienmitglied und musste vorne zu seiner Mutter auf den Kutschbock des Pferdewagens, als es losging mit der Flucht. Hinten seine zwei Schwestern und der jüngere Bruder. Die jüngste, Marianne, wäre ihnen fast erfroren. Am liebsten wäre er zur Schule gegangen, hatte Vater immer gesagt, doch stattdessen habe er auf dem Feld arbeiten müssen. Auch als der Krieg vorbei war. Nach einiger Zeit in der Kolchose hatte sich sein jüngerer Bruder nach Westen aufgemacht. Und dann war schließlich auch Vater, ja was? Abgehauen? Im Westen jedenfalls, in einer kleinen Stadt bei Düsseldorf, hatte er gleich Arbeit gefunden, zunächst in der Ziegelei, dann als Fernfahrer und dann, als er mehr bei der Familie sein wollte, als Lastwagenfahrer im Straßenbau. Wohl nicht was er wollte, aber es gab Geld und er war tüchtig. An einem dieser Tanzabende hatte meine Mutter ihn wohl angesprochen. Jedenfalls schien es immer so, als hätte er gewiss keine Initiative ergriffen. Mein Mutter hatte immer gut von der „Ruhe“ meines Vaters gesprochen. Ihr selbst, auch aus dem Osten gekommen, schienen Männer etwas unheimlich, auch wenn sie ein herzliches und zugewandtes Wesen hatte.

 

Thomas schien auch eher herzlich und zugewandt. Warum hatte ich nur all die Jahre nie etwas gehört? Ich dachte, ich wüsste die Antwort. Ja, Vater war wortkarg. Und mit zunehmendem Alter wurde unsere Beziehung zwar auf eine behutsame Art herzlicher, doch fühlte ich mich immer blockiert, wenn ich Fragen stellen wollte. Mein Vater hatte seit Mutters Tod keine Lust mehr am Leben. Zwar war er auch vorher nie besonders lebenslustig gewesen, doch die zunehmenden Depressionen halfen nicht. Und umgekehrt war es ja nicht anders: Ich lebte doch ein ganz anderes Leben als er, hatte ich jedenfalls immer gedacht. Schon als ich noch klein war, schien er mit meiner Begeisterungsfähigkeit nicht viel anfangen zu können. Meine Musik war nicht gut oder schlecht, sondern einfach zu laut. Immer zu laut. Als ich ihm meine ersten Rocksongs auf der Gitarre vorspielen wollte, fragte er, ob ich denn schon „Hänschen klein“ spielen könne. Als ich verneinte, schien er das nicht mehr ernst zu nehmen. Und so hatte ich schon früh gelernt, meine Gefühle ihm gegenüber nicht zum Thema zu machen. Das war nicht anders, als ich die ersten Freundinnen hatte. Und so sehr er sich in den letzten Jahren über seine Enkeltochter zu freuen schien, konnte er doch auch mit ihrer Ausgelassenheit nicht viel anfangen. So dachte ich also, dass ich ihm mein Leben, jedenfalls mein Gefühls- und Liebesleben immer in allen wichtigen Punkten verheimlicht hatte. Ja, er kannte die Namen, aber die Menschen und die Geschichten blieben ihm verborgen. – Aber jetzt, im Gespräch mit Thomas wurde mir erstmals klar, dass auch er mir weite Teile seines frühen Lebens verheimlicht hatte. 

 

Thomas’ Kunstpause nach dem letzten Satz riss mich aus den halbbewussten Grübeleien: „Oliver, es gibt etwas, das du vermutlich nicht weißt.“ Was? „Was meinst du, Thomas?“ Seine Stimme war mir inzwischen vertraut wie die eines Bruders: „Oliver, du hast noch einen Halbbruder: Manfred.“ Irgendwie musste ich schmunzeln über den Namen. So nennt heute niemand mehr seine Kinder. Aber nun war dieser uncoole Name der meines zweiten Halbbruders. Was? – Thomas begann sichtlich, meine Ahnungslosigkeit zu genießen. Er wusste, dass ich als Professor arbeitete. Und vielleicht dachte er, dass ich auf seinen Frührentnerstatus nach einem Polizistenleben in der DDR hinabsah. Zwar wäre mir das nicht eingefallen, doch lag die Möglichkeit durchaus nahe. Mein Vater hatte mir oft eingebläut, dass ich achtgeben solle, wenn er mal tot sei, dass man mir nicht die Erbschaft streitig machen würde. – Ich wollte gar nicht viel wissen über Manfred. Gestern hatte ich vom Tod meines Vaters erfahren und jetzt kamen zwei seiner Söhne ins Spiel, von denen ich den einen zu ersten mal sprach, während ich von der Existenz des anderen nie gehört hatte. „Ja, Manfred ist drei Jahre älter als ich. Er wurde bei unserer Mutter groß. Ich dagegen wuchs bei der Mutter unseres Vaters auf.“ Ich versuchte, mich zu orientieren. Das war kein „Ausrutscher“, wie meine Mutter damals beteuert hatte. Diese Frau. Wie hieß sie eigentlich? Diese Frau hatte zwei Kinder mit meinem Vater – im Abstand ­von drei Jahren. Was wusste ich eigentlich über meinen Vater? Hatte wenigstens meine Mutter von Manfred gewusst?

 

Mein Vater hatte mir also noch viel mehr verheimlicht. Was sollte das? Natürlich kannte ich die Umrisse: Krieg, Flucht, Not und Arbeit, hier und da ein Witz, eine lustige Begebenheit oder die Angst vor „den Russen“. Aber was ihn bewegt hatte, außer dem Hunger? Während ich dies schreibe, frage ich mich, ob ich mich überhaupt je gefragt habe, ob er ein Leben „wie ich“ gelebt haben könnte. Ein Leben, das er vor mir und anderen verborgen hält. Und nun, einen Tag, nachdem ich von seinem Tod erfahre, merke ich, dass ich fast nichts wusste. Wir sind uns auf verborgene Weise näher gewesen, als ich gedacht hätte. Er hat sein Leben geheim gehalten – und ich habe es auch gemacht. Habe ich es ihm nachgemacht? Bin ich eines dieser Kinder, die die Traumatisierung ihrer Eltern unmerklich erben oder übernehmen?

 

Thomas überlegte halblaut, ob er zur Beerdigung kommen wolle. Meine Gedanken überschlugen sich. So lange ich denken konnte, schien mein Vater versucht zu haben, sein früheres Leben geheim zu halten. Jedenfalls vor mir. Und bereits einen Tag nach seinem Tod platzt alles heraus. Mit trauriger Bitterkeit fragte ich mich, ob man das erfolgreich nennen konnte. Vater und Sohn. Wie sie sich wechselseitig voreinander verborgen halten. Väter und Söhne. Werde ich meiner Tochter eines Tages davon erzählen? Der Anfang ist längst gemacht.

Beliebte Posts aus diesem Blog